Narzisstischer Missbrauch

gepostet von 

Gerd Goerlach

Ein interessanter Literaturvorschlag:

„Täterinnen. Offene und versteckte Aggressionen von Frauen.“

Heyne, Claudia: Kreuz Verlag Zürich 1993, 385 S., 36 DM, ISBN 3-268-00145-9


Narzisstischer Missbrauch II

Unter „narzißtischem Mißbrauch“« verstehe ich Beziehungskonstellationen zwischen Mutter und Kind, in denen die Befriedigung der narzißtischen Bedürfnisse der Mutter unter Ausnutzung der Abhängigkeit des Kindes im Vordergrund steht. Narzißtisch ausbeuterische Beziehungen zeichnen sich durch ihren symbiotischen Charakter aus: Das Kind ist sozusagen ein von der Mutter geschaffenes „Ding“, das sie wie einen unabgegrenzten Teil ihrer selbst erlebt, über den sie beliebig verfügen kann. Sie kann das Kind nicht als eigenständiges Wesen wahrnehmen und in seiner Eigenart anerkennen; statt dessen stülpt sie ihm narzißtische Bedeutungen über, die auf ihre eigene Person bezogen sind; sie idealisiert das Kind und spricht ihm Eigenschaften und Verhaltensweisen zu, die allein ihren Vorstellungen darüber, wie das Kind sein sollte, entspringen.


Das Kind hat in einer solchen Beziehung die Aufgabe, das als mangelhaft empfundene Ich der Mutter zu vervollständigen und das „Loch im Ich“ der Mutter wie eine Plombe zu füllen. Zuwendung erfährt es nur, insoweit es den Erwartungen der Mutter entspricht. Autonomiebestrebungen des Kindes werden unterbunden, bestraft und mit der Erzeugung von Schuldgefühlen belastet bzw. nur soweit zugelassen, wie sie im Dienste der mütterlichen Bedürfnisbefriedigung narzißtisch ausbeutbar sind. Jedes Abweichen von den Erwartungen der Mutter wird von ihr als verletzender oder aggressiver Akt, als Ausdruck des Verrats empfunden. Innere wie äußere Trennungen aber müssen um jeden Preis vermieden werden. Daher entbrennt ein Machtkampf nicht nur hinsichtlich des Verhaltens des Kindes, sondern auch hinsichtlich der Kontrolle seiner Gefühle und Gedanken. Die Mutter ist davon überzeugt, das Kind besser zu kennen, als es sich selber kennt. Besser als das Kind meint sie zu wissen, was es wirklich denkt, fühlt, will und braucht und was es demzufolge zu denken, zu fühlen, zu wollen und zu tun hat. Es reicht ihr aber nicht aus, wenn es sich ihren Erwartungen lediglich beugt: Es soll selber wollen, was es soll, sich also ganz und gar mit dem Bild, das sie von ihm entworfen hat, identifizieren, und sei es ihm auch noch so wesensfremd.


Negative Gefühle wie Verletztheit, Ärger, Wut und Haß sind dem Kind nicht bzw. nur insoweit, als sie auch für die Mutter einen Zweck erfüllen, gestattet. Da sie eine Art von Abgrenzung darstellen, die Konflikte und damit zumindest vorübergehend innere Trennung mit sich bringt. Hinsichtlich eigener Gefühle und Bedürfnisse unterliegt das Kind einem regelrechten Denk- und Wahrnehmungsverbot, und da es sie weder wahrnimmt noch zum Ausdruck bringen darf, erlebt es diese Gefühle als nicht zu sich gehörig und insofern als unwirklich. Irgendwann wird es sie schließlich gar nicht mehr identifizieren können; statt dessen wird es fühlen, was es meint fühlen zu müssen, und diese fremdbestimmten Regungen wird es mit authentischen Gefühlen verwechseln.
Um die Wünsche und Erwartungen der Mutter erfüllen und befriedigen zu können, muß das Kind unter Verzicht auf innere und äußere Abgrenzung sein Selbst verraten und sich für die Mutter verfügbar halten, zumal sie dem Kind vermittelt, daß sie es dringend braucht. Im Zusammenhang mit derartigen Loyalitätsbindungen entstehen stark verflochtene emotionale Beziehungen, die schwer bis kaum noch lösbare Abhängigkeiten erzeugen (siehe Kapitel »Latenter Inzest«).


Die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind ist dabei notwendig ambivalent; sie hat dem Kind gegenüber eine ausgesprochene Anspruchshaltung, von der es in jedem Falle überfordert ist, und sie idealisiert es auf eine Art und Weise, die aufgrund der tatsächlichen Unvollkommenheit des Kindes zwangsläufig zu Enttäuschungen führen muß. Während der Idealisierung des Kindes im Verhalten der Mutter Pseudo-Nähe, die nicht das wirkliche Kind, sondern das auf das Kind projizierte Ideal der Mutter meint, entspricht der unausbleiblichen Enttäuschung über die Unvollkommenheit des Kindes ein Verhalten, das durch plötzlichen Rückzug und kühle Distanz gekennzeichnet ist. Die Wechsel zwischen Pseudo-Nähe und Rückzug sind abrupt, das Verhalten der Mutter ist in hohem Maße inkonsistent und für das Kind nicht vorhersehbar. Infolgedessen wird sein Vertrauen in die Verläßlichkeit der Umwelt und damit auch sein Selbstvertrauen empfindlich geschädigt.


Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen spürt das Kind, daß es nicht um seiner selbst willen geliebt wird; es spürt die feindseligen Impulse, und es spürt, daß es für fremde Zwecke benutzt wird. Die Wirklichkeit erscheint ihm unzuverlässig und doppelbödig: Hinter der von der Mutter behaupteten liebevollen Qualität der Beziehung verbirgt sich eine andere Wahrheit, eine zweite Wirklichkeit. Die Realität gewinnt für das Kind keine klar umrissenen Konturen, und die Existenz dieser „»doppelten Wirklichkeit“ erzeugt in ihm tiefe Unsicherheit in Bezug auf die eigenen Wahrnehmungen und Gefühle, da diese den Interpretationen der Mutter zuwiderlaufen. Letztendlich wird das auf das Wohlwollen der Mutter angewiesene Kind gezwungen sein, ihre Interpretationen zu übernehmen, um bedrohliche Konflikte zu vermeiden: Zu der emotionalen Verlassenheit durch die Mutter tritt die dem Kind aufgenötigte Selbstverlassenheit und Selbstentfremdung.


In der Summe unterliegt das Kind dem Diktum eines Individuationsverbotes. Das Recht auf ein eigenes Selbst wird ihm abgesprochen; an dessen Stelle tritt im Laufe der Zeit ein unter enormem Anpassungs- und Loyalitätsdruck entstandenes „falsches Selbst“. Authentische ethisch-moralische Maßstäbe haben in diesem „falschen Selbst“ keinen Platz, weil Werte und Normen nicht in Selbstverantwortung und Freiheit erworben werden konnten, sondern immer nur als fremdbestimmt und aufgezwungen erlebt wurden.


Da die Grunderfahrung eines narzißtisch mißbrauchten Kindes darin besteht, daß in einer Beziehung zu einem anderen Menschen immer nur Platz für ein Ich ist, kann es sich Beziehungen zu anderen Menschen nur in der Polarität von Unterwerfung und Herrschaft vorstellen, Liebe und Bindung sind auf diesem Hintergrund nicht oder nur in verzerrten und destruktiven Ausprägungen lebbar. Da die Erfahrung besagt, daß sowohl Liebe als auch Bindung Mittel zum Zwecke der Ausbeutung, Manipulation und Kontrolle sind, ist jeder Versuch, Nähe und Intimität zuzulassen, zum Scheitern verurteilt, weil er mit der Angst vor erneuter identitätsvernichtender Vereinnahmung unlösbar verbunden ist.

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